4 Antisemitismus nach Auschwitz

Wehret den Anfängen Kontinuitäten

Nach dem Ende der NS-Herrschaft im Mai 1945 begann eine neue Zeit. Von einer Stunde Null kann jedoch keine Rede sein. Der gesellschaftlich tief verankerte Antisemitismus war nicht einfach aus den Köpfen verschwunden. Vielmehr lebte er fort und Juden:Jüdinnen waren weiterhin Anfeindungen ausgesetzt. Bereits wenige Wochen nach Kriegsende kam es erneut zu Schändungen jüdischer Friedhöfe. Ende der 1940er Jahre teilten zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung judenfeindliche Einstellungen.

Viele alte antisemitische Ressentiments bestanden weiter. Jüdische KZ-Überlebende, die heimatlos geworden in den DP-Lagern (Displaced persons camps) festsaßen, wurden öffentlich diffamiert und ausgegrenzt. Razzien, Kontrollen und Schikanen der Polizei in den DP-Camps waren die Folge und Ausdruck des anhaltenden Antisemitismus in Deutschland. Ende März 1946 wurde bei einer Razzia der Auschwitz-Überlebende Shmuel Dancyger von der deutschen Polizei erschossen. Die Polizei war unrechtmäßig in das Lager eingedrungen, um nach angeblichen Schwarzmarktgütern zu suchen.

"Nieder mit dem ‚Stürmer‘ von 1949“ – am 10. August 1949 blockierten 1.500 Shoah-Überlebende das Verlagshaus der Süddeutschen Zeitung und forderten den Entzug der Presselizenz. Auslöser war der Abdruck eines antisemitischen Leserbriefs am Tag zuvor. Beim Versuch, die Demonstration aufzulösen, setzte die Polizei Schusswaffen ein und verletzte mehrere Personen.
Bild: Bayerische Staatsbibliothek | Archiv Heinrich Hoffmann

Antisemitismus in der Nachkriegspresse

Mit der kontrollierten Vergabe von Presselizenzen hatten die Alliierten nach 1945 versucht, den Antisemitismus und anderes nationalsozialistisches Gedankengut in der deutschen Bevölkerung einzudämmen. Zeitungen und Zeitschriften mussten genehmigt werden und ihre Antragsteller:innen wurden von den Behörden auf mögliche NS-Vergangenheiten geprüft.

Nach Wegfall dieser Lizensierungspflicht 1949 kam es zu einem sprunghaften Anstieg von nationalistischen Presseerzeugnissen. Selbst in renommierten Blättern wie der Süddeutschen Zeitung, dem Stern und dem Spiegel erschienen hetzerische Berichte mit antisemitischer und nationalistischer Ausrichtung. Die jüdische Exilzeitung Der Aufbau bezeichnete die Wochenzeitung Die Zeit sogar als das „Sprachrohr der Kriegsverbrecher“.

Schuldabwehr-Antisemitismus

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten herrschte in Deutschland eine Mischung aus Verdrängung und selektiver Erinnerung. Während der Holocaust offiziell anerkannt wurde, blieb eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld aus. Viele Deutsche empfanden sich eher als Opfer des Krieges und der alliierten Besatzung, denn als Täter. Schon bald wurden Rufe nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit laut.

Da offener Antisemitismus anders als in den Jahren davor nun offiziell tabuisiert war, veränderte er seinen Ausdruck. Über einen Umweg in der Kommunikation fand er eine neue, codierte Form. In diesem Kontext entstand der Schuldabwehr-Antisemitismus: Anstatt sich mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen, wurden jüdische Stimmen, die Gedenken und Aufarbeitung forderten, als störend empfunden.

Volker Weiß über Erinnerkungskultur und den sogenannten "Schuldkult".
Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!
Zvi Rix, israelisch-jüdischer Psychoanalytiker.

Diese neue Form von Antisemitismus funktioniert dabei nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Weil er quasi auf dem Antisemitismus der Nazis aufbaut, wird er deswegen auch als „sekundärer Antisemitismus“ bezeichnet. Der Holocaust wird dabei nicht unbedingt geleugnet, aber relativiert. Um die eigene oder gesellschaftliche Schuld abzuwehren, wird Juden:Jüdinnen unterstellt, die Shoah und die Erinnerung daran zu instrumentalisieren, um sich selbst (z.B. ökonomische) Vorteile zu verschaffen. Wie das funktioniert, wollen wir uns einmal anhand konkreter Beispiele aus der Presse anschauen:

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Israelbezogener Antisemitismus

Neben dem Antisemitismus aus Schuldabwehr entwickelte sich nach 1945 noch eine weitere neue codierte Form des Antisemitismus. Seit der Gründung Israels 1948 artikuliert dieser sich über eine Feindseligkeit gegenüber dem neuen Staat. Diese auf Israel bezogenene Form des Antisemitismus richtet sich nicht mehr explizit gegen Juden:Jüdinnen als Einzelpersonen, sondern gegen den Staat Israel als vermeintlichen "Stellvertreter" des Judentums. Dabei werden klassische antisemitische Motive in neuer Form wiederholt: Israel wird dämonisiert, mit doppelten Standards beurteilt oder delegitimiert.

Erste Anzeichen dieses israelbezogenen Antisemitismus lassen sich bereits in den Debatten um die Wiedergutmachung Anfang der 1950er Jahre ausmachen, jedoch tritt er seit dem Sechstagekriegs Israels 1967 besonders deutlich auf. In dieser Zeit begann auch die Politisierung des juristischen Begriffs des Genozids. Zunächst vor allem um den Krieg der USA in Vietnam zu klassifizieren, wurde der Begriff fortan zum Kern einer Judenfeindschaft, die sich als "Israelkritik" tarnt.

Eine gängige Erscheinung hierbei ist die Umkehr von Täter und Opferrollen. Oftmals in Kombination mit NS-Analogien, wird Israel dabei als neuer „Nazi-Staat“ diffamiert und Zionismus als der neue Faschismus bezeichnet. Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg in Gaza verbreitet sich diese Form des Antisemitismus stark, insbesondere in den sozialen Medien.

Ausgerechnet am 31. Jahrestag der Novemberpogrome deponierte 1969 eine sich links verstehende Gruppe einen Sprengsatz im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin. In einem zynischen Flugblatt mit Titel „Schalom & Napalm“ wurde die Tat als Kritik am militärischen Vorgehen Israels gerechtfertigt. Der Text wurde in der linken Szenezeitschrift Agit 883 abgedruckt. Dass die Bombe nicht explodierte, war allein einem technischen Fehler zu verdanken.
Flugblatt, abgedruckt in: Agit 883, Nr. 40 vom 13.11.1969.

Im nächsten Modul lernst du mehr über versteckte Codes sowie die Funktionsweise von Antisemitismus.