2 Pogrome, Propaganda, Politik

Die Erfindung des modernen Antisemitismus

Mit Beginn der Moderne im 19. Jahrhundert veränderte sich die Feindschaft gegenüber Juden:Jüdinnen grundlegend. Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und die industrielle Revolution brachten tiefgreifende wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen mit sich. Bei manchen führten diese zu Verunsicherungen. Die jüdische Aufklärung (Haskala) und ihre Emanzipation wurde von reaktionären Kreisen als Bedrohung eigener Privilegien empfunden. Modernisierungsprozesse wurden mit dem Judentum assoziiert, die Widersprüche und negativen Folgen der Modernisierung im Bild "des Juden" personifiziert.

Im Sommer 1819 kam es ausgehend von Würzburg in zahlreichen Städten Deutschlands zu einer Reihe antisemitischer Gewalttaten. Bereits damals verbreiteten Zeitungen in ihrer Berichterstattung antijüdische Stereotype.
Johann Michael Voltz: „Würzburg 1819“ – „Hepp! Hepp!“, Kolorierte Radierung von 1819. Museumslandschaft Hessen Kassel.

Vom religiösen Vorurteil zur antisemitischen Welterklärungsformel

In dieser Zeit entwickelte sich der moderne Antisemitismus. Statt religiöser Feindbilder rückten nun politische und rassistische Ideologien in den Vordergrund. Die Konstruktion nationaler Identitäten und die Unklarheit darüber, was eigentlich überhaupt deutsch sei, verschärfte das Abgrenzungsstreben gegenüber Juden:Jüdinnen. Der Nationalismus stellte das Fremdbild vom "wurzellosen, kosmopolitischen Juden" einer völkisch, "verwurzelten Wir-Gemeinschaft" gegenüber. In dieser Identitätssuche durchzog im ersten Jahrzehnt nach Gründung des Deutschen Reichs eine publizistische Welle über die „Judenfrage“ Deutschland. Damals wurde auch der Begriff „Antisemitismus“ erfunden und als Selbstbezeichnung verwendet. So gründeten sich offen antisemitische Zusammenschlüsse wie die „Antisemitenliga“ oder die "Antisemitische Volkspartei" - im Jahr 1882 fand in Dresden gar ein "Internationaler antijüdischer Kongress" statt.

In antisemitischen Schriften und Karikaturen wurden Juden:Jüdinnen beleidigt und diffamiert. Auf Verschwörungsmythen gestützt verband sich der Antisemitismus mit pseudowissenschaftlichen Rassentheorien, die die "Andersartigkeit von Juden" rassistisch begründeten. Sie wurden durch gezielte politische Propaganda verbreitet und drangen immer tiefer in die Gesellschaft ein. Mehr zu antisemitischen Narrativen und ihrer heutigen Codierung findet ihr in Modul III.

Welche antisemitischen Darstellungen kennst du?

Hetze, Gewalt & Solidarität

Antisemitischen Verleumdungen und Lügen hatten brutale Folgen für die jüdische Community: Bei einem Pogrom in Kischinjow (der heutigen Hauptstadt Moldawiens) wütete im April 1903 ein antisemitischer Mob, der 49 Juden:Jüdinnen ermordete. Auslöser waren Gerüchte, die eine örtliche Zeitung in die Welt gesetzt hatte: „Die Juden“ hätten zwei Kinder ermordet, um ihr Blut für die Zubereitung von Matze zu verwenden. Das Pogrom löste eine Fluchtbewegung vor dem Antisemitismus in Russland aus und rief große internationale Solidarität in der jüdischen Community hervor.

Spendenaufruf für die Opfer des Pogroms in Kischinjow des Hilfsverein der Deutschen Juden.
veröffentlicht in der Kölnischen Zeitung, 16. Mai 1903.

Antisemitische Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg

In Deutschland kam es besonders nach dem Ersten Weltkrieg zu einem drastischen Anstieg antisemitischer Gewalttaten. Terroristische Freikorpsverbände der extremen Rechten verübten in den ersten Jahren der Weimarer Republik mehrere Morde. In vielen deutschen Städten kam es im Herbst 1923 zu pogromartigen Ausschreitungen gegen Juden:Jüdinnen. Die Gewalt war auch ein Resultat der medialen Hetze und Verleumdungen, die Juden:Jüdinnen kollektiv für die ökonomsiche Krise verantwortlich machten. Allen voran der Medienkonzern Alfred Hugenbergs verbreitete üble antisemitische Propaganda und erreichte damit große Teile der deutschen Bevölkerung. Mit dem Aufstieg der NSDAP nahm die antisemitische Gewalt in der Weimarer Republik weiter zu. Die brutalsten Angriffe ereigneten sich am Abend des jüdischen Neujahrsfests Rosch ha-Schana, am 12. September 1931. SA-Gruppen machten rund um den Berliner Kurfürstendamm Jagd auf Menschen, die sie für Juden:Jüdinnen hielten.

Jüdischer Widerstand und der Kampf gegen Antisemitismus

Doch auf den zunehmenden Antisemitismus gab es auch Gegenwehr. Im Dezember 1890 gründete sich in Berlin ein Verein zur Abwehr des Antisemitismus, um der antisemitischen Welle entgegenzutreten sowie Einzelpersonen und Organisationen bei juristischen Auseinandersetzungen zu unterstützen. Publizistisch wandte man sich gegen den grassierenden Antisemitismus und berichtete regelmäßig von antisemitischen Vorfällen an Schulen und Universitäten, analysierte Reichstagsdebatten und die deutsche Medienberichterstattung. Der Verein blieb bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 aktiv, löste sich dann unter enormen Druck der neuen Verhältnisse auf. In Berlin unterhielt der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ein konspiratives Büro in der Wilhelmstraße, in dem Materialien über die NSDAP gesammelt wurden, personelle Verstrickungen aufgedeckt wurden sowie über antisemitische Mythen und mediale Falschbehauptungen aufgeklärt wurde.

Der "Anti-Anti. Tatsachen zur Judenfrage" war zentrale Veröffentlichung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens aus dem Jahr 1924. Die Blättersammlung sollte Fakten gegen Antisemitmus liefern. Auf über 60 losen Blättern wurden antisemitische Narrative und Mythen wiederlegt.
Herbert Fischer, Studio für Fotografie, Frankfurt
Das war jetzt viel Input, mal sehen was du gelernt hast.

Kreuze die richtigen Antworten an.

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